Kontrafaktische Historie lässt sich nicht nur mit dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges oder dem Untergang Roms treiben, sondern auch mit der Erdgeschichte. Unterhaltsam sind hier insbesondere Gedanken zu der Frage, wie die Evolution des Lebens wohl verlaufen wäre, hätte nicht am Ende der Kreidezeit vor 66 Millionen Jahren ein Asteroid die damals dominante Faunengruppe der Dinosaurier – bis auf drei kleine Gruppen, den Vorfahren der heutigen Vögel – völlig ausgelöscht. Würden Kunst, Krieg und Kräuterkunde dann statt von spärlich behaarten Säugetieren von irgendwelchen Echsenwesen vom Aussehen des legendären Gorn aus der Star-Trek-Folge „Arena“ aus dem Jahr 1967 betrieben?
Eine etwas fundiertere Spekulation über das evolutionäre Geschehen auf jener alternativen Zeitlinie legt nun eine Studie nahe, die Forscher um Matteo Fabbri vom Field Museum of Natural History in Chicago in der aktuellen Ausgabe von Nature veröffentlicht haben. Demnach wären die Meere der kontrafaktischen Nachkreidezeit vielleicht von fisch- und walförmigen Kreaturen bevölkert, die von Dinosauriern abstammen.
Filmstar mit Rückensegel
Mehr als dreißig Mal und ganz unabhängig voneinander haben sich Landwirbeltiere wieder ins Wasser begeben und die Baupläne ihrer Körper einer aquatischen Lebensweise angepasst. Das geschah zum Beispiel im Fall der Evolution der Wale, der Robben aber auch der Plesiosaurier, die zur selben Zeit wie die Dinosaurier lebten, aber mit diesen nicht näher verwandt sind als allein dadurch, dass es sich auch um Reptilien handelt. Sie alle hatten Vorfahren, die auf vier Beinen übers Trockene liefen. Und die Ahnen der fischförmigen Ichthyosaurier waren zumindest Amphibien. In den meisten großen Tiergruppen scheint solch eine Rückkehr ins Wasser vorgekommen zu sein. Nur die Nichtvogel-Dinosaurier, die mindestens 165 Millionen Jahre lang an der Spitze der Nahrungskette über die Landmassen der Erde streiften, sind immer dort geblieben. Mit einer prominenten Ausnahme, wie Matteo Fabbri und Kollegen nun zeigen konnten: Die Familie der Spinosauridae.
Posterboy dieser Gruppe ist die Gattung Spinosaurus. Wem dieser Begriff nichts sagt, der schaue sich nur in einem Kinderzimmer um. Neben T-Rexen, Brontosauren und Triceratöpsen – das alles sind belegte Pluralbildungen durch Vorschulkinder – findet sich dort so gut wie immer auch die Plastikfigur eines Spinosaurus. Erkennbar sind die Tiere an ihrer langgezogenen Schnauze und dem merkwürdigen Rückensegel, dem sie ihren Namen verdanken. Als der Paläontologe Ernst Freiherr Stromer von Reichenbach 1912 in Ägypten zuerst auf versteinerte Skelettreste einer solchen Kreatur stieß, wunderte er sich besonders über die enormen Fortsätze der mittleren Rückenwirbel, die auf ihn wie Stacheln (lateinisch spinae) wirkten. Stromer selbst vermutete, diese Fortsätze hätten einen Fettbuckel gestützt, viele andere Forscher glauben aber, dass sie lediglich ein dünnes Hautsegel aufspannten, wobei der biologische Zweck dieser Vorrichtung strittig also ungeklärt ist: Sie könnte der Temperaturregelung gedient haben, um Drohungen gegen Rivalen Nachdruck zu verleihen oder schlicht zur pfauenhaften Angeberei vor dem anderen Geschlecht.