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Ukraine-Krieg: Woher nehmen die Menschen ihren Mut?

Während der Krieg weiter wütet und noch kein Ende in Sicht ist, haben die Ukrainer unvorstellbare Anstrengungen unternommen, um sich und ihr Land zu schützen. Viele sind als Soldatinnen und Soldaten in den Krieg gezogen, andere sind zurückgeblieben, um die Kämpfenden mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen lebenswichtigen Dingen zu versorgen oder einfach nur, um sie moralisch zu unterstützen.

Ukrainische Mütter gehen mit ihren Kindern auf dem Arm über die Grenze und lassen ihre Ehemänner oder Söhne über 18 Jahren zurück. Andere drehen wieder um und lassen sogar ihre Kinder allein die Grenze überqueren. All das, um für ihr Heimatland zu kämpfen.

Es fällt schwer, die verängstigten Gesichter dieser Menschen zu verkraften. Eine Mischung aus Angst und Reife zeichnet sich in ihrer Mimik ab.

Viele Ukrainer gehen große Risiken ein

Auch Journalistinnen und Journalisten gehen Risiken ein, um vor Ort über den Krieg zu berichten. Und dann sind da noch die Demonstranten. Selbst in den von Russland besetzten Städten wie Kherson protestieren Ukrainerinnen und Ukrainer gegen die Präsenz der Invasionsarmee und für die Einheit des Landes.

Auch in Russland sind mutige Menschen auf die Straße gegangen und haben gegen den Angriff von Präsident Wladimir Putin auf das Nachbarland protestiert, obwohl die Duma kürzlich ein Gesetz verabschiedet hat, das Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für Personen vorsieht, die “falsche” Informationen über die Armee verbreiten. Das schließt auch diejenigen ein, die gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine protestieren.

Bis jetzt wurden Zehntausende verhaftet, darunter eine Frau, die lediglich ein leeres Blatt Papier hochgehalten hat.

Protest live im Staatsfernsehen

Am 14. März stürmte Marina Owsjannikowa, eine Mitarbeiterin des staatlichen Fernsehsenders Channel 1, eine Nachrichtensendung und rief “Stoppt den Krieg”. Dabei hielt sie ein Plakat in den Händen, auf dem stand, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer von den Medien belogen würden.

Dies sind nur einige Beispiele für Mut und Tapferkeit. Und während wir uns vielleicht fragen, ob wir in dieser Situation genauso handeln würden, stellt sich noch eine andere Frage: Was ist Mut, und wie finden wir als Menschen überhaupt die Kraft, unter solch schwierigen Umständen mutig zu sein?

Was ist Mut?

“Wir definieren Mut als Eingehen eines Risikos, das sich lohnt”, sagt Cynthia Pury, klinische Psychologin und Professorin an der Clemson University im US-Bundesstaat South Carolina.

Mut “ist selbstlos und hat viele gesellschaftliche Auswirkungen, weil man nicht nur auf sein eigenes Interesse achtet, sondern sich für die Gemeinschaft aufopfert”, erklärt der Psychologe Shahram Heshmat, ehemaliger Professor an der Universität von Illinois und Autor der US-Zeitschrift “Psychology Today”, im Gespräch mit der DW. “Und das ist es, was wir in dieser Krise in der Ukraine sehen, dass viele Menschen selbstlos für ihr Land eintreten.”

Das Idealbild eines mutigen Menschen sei der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Vorbilder wie er würden auch anderen Mut machen. Heshmat zieht einen Vergleich zum damaligen afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani, der nach der Machtübernahme der Taliban im vergangenen August aus Afghanistan floh.

Ist Tapferkeit gleich Furchtlosigkeit?

Die Vorstellung, dass mutige Menschen keine Angst haben, sei einfach nicht wahr, so Heshmat. “Mut ist nicht das Fehlen von Angst, sondern etwas, das man tut, obwohl man Angst hat”, sagt er. Bei Mut handele es sich nicht um eine Art Rausch, sondern um eine “bewusste Entscheidung” mit “kalkulierter Risikobereitschaft”, erklärt er.

Für Cynthia Pury, Mitautorin und -herausgeberin des Buches “The Psychology of Courage: Modern Research on an Ancient Virtue”, hat die Beziehung zwischen Mut und Angst noch eine weitere Dimension: Menschen versuchten ihre Angst zu überwinden, weil sie Angst vor den Konsequenzen hätten, wenn sie es nicht täten. “Oft berichten Menschen, dass sie sich in einer Situation ängstlich fühlen, aber sie fürchten sich vor den Folgen, wenn ihre Handlung nicht erfolgreich ist.” Das sei ein Teil dessen, was uns menschlich mache, sagt Pury. “Ich glaube, dass jeder Mensch die Fähigkeit hat, mutig zu sein, wenn es etwas ist, das er für lohnenswert hält.”

Tägliche Mutproben

Mutig zu sein ist nicht auf Kriegszeiten oder den Protest gegen autoritäre Regime beschränkt. Als Menschen werden wir täglich Zeugen von kleinen Taten des Mutes, die wir selbst vollbringen. “Im Moment sehen wir, was in der Ukraine passiert; das ist Mut, und zwar physischer Mut, weil man sein Leben riskiert und weiß, dass man sterben könnte, aber man tut es trotzdem”, sagt Heshmat. Feuerwehrleute hingegen riskierten ständig ihr Leben, in einem alltäglichen Kontext, sagt Cynthia Pury. Heshmat erzählt von einer 60-jährigen Frau, die sich scheiden ließ und mit dem Fahrrad quer durch die Vereinigten Staaten fuhr, oder einem Drogenabhängigen, der sich endlich mit seinem Suchtverhalten auseinandersetzt und beschließt, es aufzugeben. Auch das seien Beispiele für mutiges Verhalten.

Menschen können Mut üben

“Im Alltag erleben wir psychologischen Mut im Sinne von mentaler Stärke. Man steht vor etwas, das man noch nie zuvor getan hat”, so Heshmat. Darüber hinaus sei es möglich, sich selbst Mut anzutrainieren, “als Gegenmittel gegen Depressionen und Ängste”.

Mut als Charaktereigenschaft könne kultiviert werden, um die alltäglichen Herausforderungen im Leben zu meistern. “Nehmen wir an, jemand hat im Leben einen großen Misserfolg erlebt. Er hat keinen Job bekommen und sein Selbstvertrauen verloren, was ein wichtiges Element des Mutes ist”, sagt Heshmat und erklärt, dass ein größeres Selbstvertrauen zu einem mutigeren Verhalten führen kann. Der Schlüssel zum Aufbau von Selbstvertrauen, und damit zu mehr Mut, liege darin, etwas wiederholt zu tun und dadurch die Fähigkeit zu entwickeln, an den Erfolg zu glauben.

Und wie ist das mit dem Mut im Krieg? “Jeder Mensch ist in gewisser Weise mutig, aber er kennt sein Potenzial nicht”, sagt Heshmat. Deshalb sei eine mutige Handlung oft spontan und intuitiv. Was wir während des russischen Einmarsches in der Ukraine sehen, seien Menschen, die sich der Situation stellten, weil die Situation es von ihnen verlange, sagt er: “Vor zwei Wochen hätten sie vielleicht noch nicht gewusst, dass sie so mutig handeln würden.”

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