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„Im besetzten Teil haben die Russen die Menschen einfach im Stich gelassen“

Nachdem am Dienstagmorgen der Kachowka-Staudamm am Dnipro zerstört worden war, wurde für den Folgetag der Höhepunkt der Flutwelle in der Südukraine erwartet. Tatsächlich erlebt die Gebietshauptstadt Cherson an diesem Mittwoch großflächige Überschwemmungen. Ganze Straßenzüge stehen teilweise mehr als zwei Meter unter Wasser.

Zugleich sind zahlreiche Freiwillige nach Cherson gekommen, die den Betroffenen der Überschwemmungen helfen. Sie sind teilweise weit angereist, aus Dnipro, Odessa und Mykolajiw. Die Freiwilligen organisieren Lebensmittel, Trinkwasser und Boote, um die Menschen aus ihren Häusern zu retten. Auch der ukrainische Innenminister Ihor Klymenko ist am Mittag in der Stadt eingetroffen, die vom zerstörten Staudamm aus rund 70 Kilometer flussabwärts liegt.

Schon am Montag haben Bewohner der Südukraine die Region in Evakuierungszügen verlassen. Bis Mittwochmittag sollten mehr als 1500 Menschen aus dem Gebiet Cherson gebracht worden sein, mehrere Zehntausend könnten folgen. Die Betroffenen der Flut finden in der gesamten Ukraine vorübergehende Aufnahme. So ist ein Zug laut einem Bericht im mehrere Hundert Kilometer entfernten westukrainischen Gebiet Lemberg (Lwiw) eingetroffen. Nach offiziellen Angaben wurden am ukrainisch kontrollierten rechten Dnipro-Ufer bisher mehr als 1900 Häuser überflutet. Etwa 80 Orte liegen im potentiellen Überflutungsgebiet. Innenminister Klymenko berichtete von mehreren vermissten Personen.

Haben die Besatzer die Menschen im Stich gelassen?

Von der Flut sind ebenso zahlreiche Orte am linken, russisch kontrollierten Dnipro-Ufer betroffen. In Nowa Kachowka, das am zerstörten Staudamm liegt, sind laut dem von den russischen Besatzern eingesetzten Bürgermeister Wladimir Leontjew bis zu 100 Menschen in den Wassermassen eingeschlossen. Das Ausmaß der Katastrophe sei riesig, sagte Leontjew der russischen Agentur RIA, in seiner Stadt drohten Seuchen.Eine Beraterin des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj schrieb auf Telegram, in der Stadt Oleschky, die am Dnipro gegenüber von Cherson liegt, hätten Menschen auf Dächern übernachten müssen. „Im besetzten Teil der Region Cherson haben die Russen die Menschen einfach im Stich gelassen“, warf Darija Zariwna den Besatzern vor. Selenskyj selbst erklärte, dass Kiew sich deswegen an internationale Organisationen wenden werde. Nach ukrainischen und westlichen Einschätzungen, unter anderem von hohen NATO-Beamten, liegt die Vermutung nahe, dass Russland den Damm zerstört hat, um eine ukrainische Befreiung von Gebieten links des Dnipro zu verhindern. Berichten zufolge wurde Cherson auch während der Evakuierung nach dem Dammbruch mit Artillerie beschossen.

Während etwa in Nowa Kachowka der Pegel schon wieder gesunken ist, steigt er an flussabwärts gelegenen Orten weiter an. Sogar in Mikolajiw, das rund 60 Kilometer nordwestlich von Cherson und nicht am Dnipro, sondern an Flüssen liegt, die in diesen fließen, steigt der Pegel merklich an. Bis Mittwochmittag sei der Wasserstand um 70 Zentimeter gestiegen, sagte der Bürgermeister Olexander Sinkewitsch auf Telegram. Der für die Stadt kritische Wert sei ein um mehr als 105 Zentimeter erhöhter Pegel, sagte Sinkewitsch zuvor. Am frühen Nachmittag wurde von Überschwemmungen im Stadtteil Welyka Korenykha berichtet.

Laut Aussagen von Präsident Selenskyj haben derzeit Hunderttausende Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Wegen Vergiftungsgefahr warnen die Behörden davor, Trinkwasser aus Brunnen zu entnehmen und zu angeln. Sogar im Schwarzen Meer sollte man die nächsten Tage nicht schwimmen. Nach einem Bericht des britischen Geheimdienstes sind in den nächsten Tagen zudem weitere Flutwellen zu erwarten, da der Kachowka-Damm weiter bröckele. Der Zeitung „New York Times“ zufolge verdichteten sich Hinweise, dass der Damm durch Explosionen von innen zerstört wurde.

Die Dnipro-Kraftwerke oberhalb des Stausees drosseln derweil laut der Betreibergesellschaft den Durchfluss, um die Wassermenge im unteren Teil des Flusses zu reduzieren. Der Leiter der Chersoner Militärverwaltung erwartet zudem, dass der Höhepunkt der Überschwemmungen erst am Donnerstag erreicht wird +– und nicht wie zunächst vorhergesagt am Mittwoch.

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