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Im Schatten der Atombombe: Leben im Kalten Krieg

“Susanne lässt sich leicht zum Schwätzen verleiten”, stand im Zeugnis, mit dem ich im Sommer 1972 die erste Klasse abschloss. Deshalb war das, was meine Eltern nun von mir verlangten, eigentlich eine Höchststrafe: Ich sollte absolut still sein, wenn wir an die Grenze kamen und kontrolliert wurden. 

NATO versus Warschauer Pakt

Die Grenze – das war die innerdeutsche Grenze, die Deutschland bis zum Mauerfall 1989 in zwei Staaten spaltete: die Bundesrepublik im Westen, ein Mitglied der NATO, und die DDR im Osten, Teil des Warschauer Paktes. Unter Führung der USA auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite standen sich beide Bündnisse in einem waffenstarrenden Abschreckungs-Duell rund vier Jahrzehnte gegenüber.

Denn die Allianz von Amerikanern, Briten und Russen, die im Zweiten Weltkrieg Nazi-Deutschland besiegt hatte, war rasch zerbrochen. Zu unterschiedlich waren die Ideologien und Systeme: das kapitalistische im Westen und der Kommunismus im Osten. 

Diese Grenze, auf die wir nun aus der DDR in Richtung Westen zurollten, war eine der am schärfsten bewachten der Welt. Es war die Nahtstelle des Kalten Krieges. 

Beim Grenzübertritt: “Ohr frei machen!”

Als der Zug abbremste, hampelte ich nervös (und mit meinem kleinen Bruder stumme Blicke wechselnd) auf der nach Plastik riechenden Sitzbank herum. Auch die anderen Passagiere schwiegen, nur ab und zu wurde die Stille von leisem Flüstern unterbrochen. Draußen schien die Sonne, drinnen herrschte Beklemmung.
Nach einer schier endlosen Zeit öffnete sich die Abteiltür und grimmig blickende DDR-Grenzbeamte in mausgrauen Uniformen begannen, uns zu kontrollieren. “Papiere!” Meine Eltern übergaben Visum und Pässe.

Dann schauten die Beamten nacheinander jedem von uns quälend lange abwechselnd ins Gesicht und auf den Pass. “Ohr frei machen!” – auf Passfotos musste ein Ohr zu sehen sein. Ich strich zitternd die Haare zurück und saß mucksmäuschenstill, mein Herz schlug bis zum Hals. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich keinen Ton raus gebracht. Die Grenzbeamten lächelten nie, auch nicht zu uns Kindern. 

Flucht und getrennte Familien

Emotionale Eiseskälte, Schweigen und stundenlanges Warten: So fühlte sich für mich derKalte Kriegan, lange, bevor ich wusste, was der Begriff bedeutete. 
Dabei war ich privilegiert, dass ich diese Grenze überhaupt in Richtung Westen überqueren durfte. Denn die DDR sperrte ihre Bürgerinnen und Bürger ein – nur wenige Auserwählte durften in den Westen reisen. Und für manche endete der Versuch, die DDR zu verlassen, mit dem Tod. Mindestens 500 Menschen sind an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer bei Fluchtversuchen ums Leben gekommen, die genaue Anzahl ist bis heute unklar. 

So mussten also wir in die DDR fahren, wenn wir Onkel Max und Tante Frieda in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) besuchen wollten, die Zieheltern meiner Mutter. Die beiden hatten sich von klein auf um sie gekümmert, wenn meine verwitwete Oma arbeiteten musste. Als meine 13-jährige Mutter und meine Oma 1956 in den Westen flohen, blieben sie und viele andere Verwandte in der DDR. Im Westen lernte meine Mutter meinen Vater kennen, 1963 heirateten sie – ein halbes Jahr, nachdem während der Kubakrise 1962 aus dem Kalten Krieg fast ein heißer geworden wäre.

Ein Kalter Krieg mit 22 Millionen Opfern

Wobei der Begriff “Kalter Krieg” verharmlost, weil er den Blick verengt: Denn zwar gab es währenddessen keine direkte militärische Konfrontation der beiden Supermächte USA und UdSSR, wohl aber zahlreiche Stellvertreterkriege, bei denen es um Territorien, Ressourcen und ideologische Einflusssphären ging: in Korea und Vietnam, auf dem afrikanischen Kontinent oder in Afghanistan. Rund 22 Millionen Menschen starben in diesen blutigen Auseinandersetzungen.

Doch all das erfuhr ich erst viel später, in der Schule und im Studium. Als eigentlich schwatzhafte, jetzt aber gründlich eingeschüchterte Sechsjährige saß ich 1972 im Zug. Denn es gab ja etwas zu verschweigen – und das hatte mit meinen Füßen zu tun. 

Mangelwirtschaft, Warten und Willkür

In der kommunistischen Planwirtschaft gab es für die Ein- und Ausfuhr von Gütern strenge Bestimmungen: So durften zahlreiche Dinge nicht eingeführt werden, zum Beispiel “Druckerzeugnisse, die den Interessen der DDR oder ihrer Bürger widersprechen”, wie es in einer Info-Broschüre hieß. Und als solch unerwünschte West-Propaganda konnten sogar Micky Maus-Hefte gelten, die Formulierung erlaubte jegliche Willkür. Bei der Ausreise hingegen war es streng untersagt, wichtige DDR-Erzeugnisse auszuführen – wozu auch Kinderkleidung und Schuhe zählten.

Doch in genau solchen steckten nun meine Kinderfüße: einem Paar roter Sandalen. Meine Eltern hatten sie bei unserem Besuch für DDR-Mark gekauft, die jeder Reisende verpflichtend gegen Devisen eintauschen musste, Rücktausch ausgeschlossen. Da wir bei Onkel Max und Tante Frieda wohnten, hatten wir jedes Mal Schwierigkeiten, das Geld aus dem Zwangsumtausch auszugeben. 

Was heute nur noch eine skurril anmutende Anekdote ist, war damals durchaus riskant: Bei Verstößen gegen die Zoll- und Devisenbestimmungen der DDR wurden hohe Geldstrafen verhängt, bei schweren Verstößen drohten gar Festnahme und Untersuchungshaft. Und was als schwerer Verstoß gewertet würde, konnte man nie wissen. 

Lieber Mittelmeer als DDR

Mit den Jahren riss mein Kontakt zu Onkel Max und Tante Frieda und der Familienhälfte in der DDR ab. Als junge Frau sehnte ich mich nach dem Süden, reiste nach Frankreich, Spanien oder Italien, das war ja auch herrlich unkompliziert. Die innerdeutsche Grenze überquerte ich nur, wenn ich musste. Fast immer dauerte es Stunden, bis wir weiterreisen durften, jedes Mal saß die Angst im Nacken. 

Davon abgesehen war auch für mich, wie für viele junge Menschen in Westeuropa, der Kalte Krieg eine eher vage Bedrohung. Wir kannten die Welt nicht anders als in zwei Blöcke gespalten. Auch an eine Wiedervereinigung Deutschlands glaubte ich nicht.  

Die größte Friedensbewegung der Nachkriegszeit

Ich war vielmehr überzeugt davon, dass die beiden Blöcke endlich Frieden schließen sollten. Zu Beginn der 1980er-Jahre kam das Wettrüsten in eine neue Phase: mit der Stationierung der sowjetischen SS-20 Mittelstreckenraketen und dem NATO-Doppelbeschluss, der beim Scheitern der Abrüstungsverhandlungen der beiden Supermächte weitere Raketenstationierungen seitens der NATO in Mitteleuropa vorsah. Aus Protest entstand die größte Friedensbewegung, die Deutschland bis dahin gesehen hatte, getragen vor allem von den Grünen, Teilen der SPD und den Kirchen. Mehr als 300.000 Menschen strömten im Oktober 1981 zur Friedensdemonstration auf die Bonner Hofgartenwiese: Der von mir bewunderte Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll war dabei, auch der US-Musiker Harry Belafonte trat in Bonn auf.

Im Radio lief Nena mit “99 Luftballons” – die Friedensbewegung bewegte auch die Kultur.  

Nie wieder Krieg!

Ich war damals überzeugte Pazifistin. Nie wieder Krieg! Das sah ich so, wie meine Oma, die zwei Weltkriege erlebt und dabei ihren Mann und ihren Bruder verloren hatte. Denn schließlich hatte ja der von Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg überhaupt erst zur deutschen Teilung und dem Kalten Krieg geführt. 

Deshalb sprach mir 1985 Stings Lied “Russians” aus dem Herzen. Als US-Präsident Ronald Reagan zuvor von der Sowjetunion als dem “Reich des Bösen” gesprochen hatte, konnte und wollte ich eine solche Weltsicht nicht teilen. Sting hingegen appellierte an die Kraft der Menschlichkeit. 

Vor kurzem hat Sting das Lied zur Unterstützung der Ukraine neu eingespielt. “The Russians love their children too”, heißt es darin ja. Und wie in den 1980er-Jahren hoffe ich auch heute, dass russische Mütter und Väter ihre Kinder so sehr lieben, dass sie sich endlich zur Wehr setzen gegen diesen grausamen und völkerrechtswidrigen Krieg, mit dem Russlands Präsident Putin die Ukraine überzieht. Denn darin sterben ja nicht nur unzählige unschuldige Ukrainerinnen und Ukrainer, sondern auch junge Russinnen und Russen.

Nachtrag: Das Ende des Schreckens 

Als der “Tagesschau”-Sprecher an jenem denkwürdigen 9. November 1989 die Öffnung der DDR-Grenze verkündet, rufe ich meine Oma und meine Eltern an. Wir weinen am Telefon. Onkel Max und Tante Frieda sind inzwischen tot, sie werden uns nicht besuchen kommen können.

Mein Bruder und ich beschließen spontan, nach Berlin zu fahren. Eine Schnapsidee: Wir kommen bis zum Grenzübergang Marienborn, die rund 180 Kilometer lange Transitstrecke bis Berlin ist völlig verstopft. Wir lassen uns die Pässe zurückgeben, wenden und schleppen einen liegengebliebenen DDR-Trabant ab, dessen Fahrer unbedingt in den Westen will. Wir stoßen mit Sekt an, es herrscht fröhliche Anarchie. Endlich hat dieser Ort seinen Schrecken verloren.  

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