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Was ist meine Muttersprache? Eine Suche zwischen Mehrsprachigkeit und emotionaler Bindung

Am 21.02.2022 findet der Internationale Tag der Muttersprache statt. Mit diesem Tag möchte die Unesco auf das fortschreitende Verschwinden von Sprachen hinweisen und gleichzeitig sprachliche Vielfalt fördern. In meinem Umfeld wird immer wieder gerätselt, was meine Muttersprache ist. Ich bin multilingual aufgewachsen: Meine Eltern brachten mir Farsi (Amtssprache im Iran) und Deutsch bei. In der Schule lernte ich Englisch und Französisch, später an der Universität Spanisch. Ich spreche also – mehr oder weniger gut – fünf Sprachen. Aber was macht eine Sprache zur “Muttersprache”?

Ist Muttersprache die Sprache, die ich als erstes gelernt habe? Oder die, in der ich denke und träume? Oder doch die Erstsprache meiner Mutter? Und kann man eigentlich mehrere Muttersprachen haben?

Bereits wenige Tage nach der Geburt können Kinder die Muttersprache von anderen Sprachen unterscheiden

Der Duden definiert Muttersprache als “Sprache, die ein Mensch als Kind (von den Eltern) erlernt [und primär im Sprachgebrauch] hat”. Klarheit verschafft mir diese Definition allerdings nicht. Also spreche ich mit dem Linguisten und Buchautor Prof. Dr. Dr. h.c. Jürgen Meisel.

Dass im Deutschen, Englischen und vielen weiteren Sprachen von “Muttersprache” die Rede ist, hängt mit der traditionell sozial gegebenen Rolle der Mutter zusammen, sagt Meisel. “Kinder hören bereits im Mutterleib ihre Mutter sprechen. Es wurde nachgewiesen, dass sie schon in den ersten Tagen nach der Geburt die Sprache der Mutter von anderen Sprachen unterscheiden können und anders auf diese reagieren – etwa durch verstärktes Nuckeln oder das Ändern der Blickrichtung.”

Sprachbegabung: “Das hat nichts mit Intelligenz zu tun”

Nichtsdestotrotz ist die Sprache, die unsere Mutter spricht, nicht zwangsläufig unsere Muttersprache. In der Wissenschaft wird daher zwischen Erst- und Zweitsprache differenziert, welche sich vom qualitativen Niveau her voneinander unterscheidenLexikalische Kenntnisse könne man ein Leben lang verbessern, etwa durch das Lernen neuer Wörter. Allerdings zeigen sich im kindlichen und vor allem erwachsenen Zweitspracherwerb Fehler in der Grammatik, die monolinguale Personen nicht machen würden, beispielsweise in Wortstellungen, der Bildung von Wörtern oder Phonologie, so Meisel.

Dem Linguisten zufolge kommen alle Kinder sprachbegabt zur Welt: “Das hat nichts mit Intelligenz zu tun. Die menschliche Sprachfähigkeit ist eine Anlage zur Mehrsprachigkeit. Es bedarf hier keinerlei erzieherischer oder pädagogischer Maßnahmen. Dazu reicht es mit dem Kind in sinnvollen kommunikativen Kontexten zu interagieren.”

Etwa die Hälfte aller Sprachen vom Verschwinden bedroht

Trotz dieser Anlage und der natürlichen Sprachbegabung verschwinden heutzutage immer mehr Sprachen. Eine aktuelle Studie australischer Forscher:innen kommt zu dem Schluss, dass etwa die Hälfte der 7.000 anerkannten Sprachen Gefahr läuft, komplett zu verschwinden. Bereits bis zum Ende dieses Jahrhunderts könnten 1.500 weitere Sprachen ausgestorben sein. “Ohne Intervention könnte sich der Sprachverlust innerhalb von 40 Jahren verdreifachen, wobei mindestens eine Sprache pro Monat verloren gehen wird”, warnen die Forscher:innen. 

Dass Sprachen verschwinden, sei laut Meisel die Folge sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen. “Vor 400 Jahren kamen Menschen ihr Leben lang nie aus ihrem Dorf raus, und wenn dann höchstens mal bis zur nächsten Kreisstadt. Heute aber reisen die Leute in den Urlaub nach Thailand und so weiter. Die Mobilität hat ungeheuer zugenommen”, sagt er.

Mehrere Muttersprachen sind möglich

Auf der einen Seite gebe es also immer mehr Mehrsprachige, während auf der anderen Seite Regionalsprachen unter Druck seien. Hierzu hätte die Einführung der allgemeinen Schulpflicht beigetragen, welche zur Verdrängung der Regionalsprachen durch die jeweilige Nationalsprache sowie zu ihrer Diffamierung als Dialekte geführt hätte.

Man nahm damals an, dass Kinder, die von Geburt an mit mehreren Sprachen konfrontiert werden würden, keine der Sprachen richtig lernen würde. Diese Annahme gilt heute aber als überholt. “Wenn ich mehrere Sprachen von Geburt an sprechen lerne, dann kann ich mehrere Muttersprachen haben – ob das dann auf der emotionalen Seite auch so ist, also ob ich eine der Sprachen bevorzuge oder nicht, ist eine andere Frage”, sagt Meisel.

Das ist beispielsweise bei mir der Fall: Obwohl ich von Geburt an mehrsprachig aufgewachsen bin, präferiere ich ganz klar eine Sprache, nämlich Deutsch. Auf Deutsch drücke ich meine Gedanken und Gefühle am treffendsten und am liebsten aus. Damit ist sie nicht nur von meinen faktischen Sprachkenntnissen her, sondern eben auch emotional meine bevorzugte Erstsprache – und Muttersprache.

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