ronischerweise interessiert die geplante Reform des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts gerade in jenem Land kaum, auf dessen Drängen der Pakt einst eingeführt wurde. Die deutsche Diskussion wird bestimmt von ein paar alten Kriegern, die sich in den neunziger Jahren für eine Schärfung der EU-Haushaltsregeln ein- und den Pakt mit durchgesetzt hatten.
Die Nachhutscharmützel, die der Bundesfinanzminister derzeit mit der EU-Kommission über deren jetzt vorgelegtem Reformvorschlag führt, tragen dieser Klientel ein wenig Rechnung, jedoch ohne bedeutsam zu sein. Christian Lindner tut so, als ob seine jüngsten Interventionen in Brüssel noch Entscheidendes am Kommissionsvorschlag verändert hätten. Das stimmt aber nicht.
Das Desinteresse ist leicht erklärt. Seitdem die damalige Bundesregierung den Pakt zunächst bedenkenlos verletzt und danach im Jahr 2005 ruppig eine Aufweichung durchgesetzt hat, sind die EU-Haushaltsregeln aus der gelebten Realität in Deutschland verschwunden. In der Euro-Schuldenkrise wurde zwar offenbar, dass der weiche Pakt massives Schuldenmachen in der EU begünstigte. Aber schuld an den hohen Schulden waren nach deutscher Lesart immer die südlichen EU-Staaten.
Hauptschuldige ist die Kommission selbst
Größeres Interesse an der Reform besteht dagegen in ebenjenen Hochschuldenländern, die sich durch die EU-Haushaltskontrolle zumindest formal noch an den Pranger gestellt fühlen. Sie wollen den Pakt möglichst ganz beseitigen. Schon viele italienische Regierungen haben sich darüber empört dass „Brüssel“ in ihre Angelegenheiten hineinregiere. Und Bruno Le Maire ist nicht der erste französische Finanzminister, der beteuert, dass seine Regierung selbstredend langfristig die EU-Budgetziele einhalten werde, sich aber leider kurzfristig deutlich mehr verschulden müsse.
Ironisch ist auch, dass die EU-Kommission ihre Vorschläge an den jeweiligen Adressatenkreis anpasst. Denen, die das hören wollen, verkündet sie das „endgültige Ende der Austerität“. Eine „moderne“ Wirtschafts- und Finanzpolitik erfordere neue Prioritäten: Es müsse massiv in den Kampf gegen den Klimawandel und die digitale Transformation investiert werden.
Den deutschen Kritikern sagt sie dagegen, es wisse doch jeder, dass der Pakt in der Vergangenheit einen massiven Schuldenanstieg nicht verhindert habe. Beides ist nicht falsch, taugt aber als Begründung für die Vorschläge überhaupt nicht. Die Lösung für den Kampf gegen den Klimawandel und die digitale Transformation besteht nicht in noch mehr Schulden. Sie muss darin bestehen, an anderer Stelle weniger auszugeben.Und dass die Kommission die Dysfunktionalität des aktuellen Regelwerks beklagt, ist lächerlich. Denn die Hauptschuldige ist sie selbst. Der Pakt gab der EU-Behörde einst ein machtvolles Instrument in die Hand, das ihr erlaubte, die Haushaltspolitik der Staaten wirksam zu kontrollieren. Sie sollte in der Währungsunion mit einheitlicher Geldpolitik, aber unverändert nationaler Finanzpolitik darauf achten, dass sich die nationalen Politiken solide und halbwegs gleich entwickelten – und nötigenfalls Sanktionen verhängen.
Die Kommission hat diese Chance aus der Hand gegeben. Ja, sie war großem Druck aus allen Mitgliedstaaten ausgesetzt. Aber der Kommissionspräsident Romano Prodi sprach vom „dummen Pakt“. Und der Kommissionschef Jean-Claude Juncker räumte ein, dass er den Pakt für Frankreich immer grenzenlos dehnen würde.
Die Illusion der Pakt-Väter ist tot
Der heutige Anspruch, die Regeln würden besser funktionieren, wenn die Kommission noch mehr Kompetenzen als bisher erhalten werde, ist deshalb nur absurd. Zugegeben: Die vom Pakt vorgezeichnete Haushaltskontrolle durch die EU-Behörde ist schon lange nicht mehr politisch attraktiv. Die Kommission sah in der Eurokrise mit Wohlgefallen, dass der Krisenfonds ESM den Schuldenländern aus der Patsche half und sich die Europäische Zentralbank als eigentliche „Euro-Retterin“ engagierte. Solide Haushalte gelten seither nichts mehr, im Gegenteil: In der Pandemie hat die Kommission auch noch (mit) durchgesetzt, dass sich die EU selbst verschuldet.
Weil das ihren politischen Einfluss stärkt, ist es nur logisch, dass die EU-Behörde an der Budgetkontrolle generell kein Interesse hat. Historisch sind die Kommissionsvorschläge schon deshalb nicht, weil der Pakt seit 2005 tot ist. Jetzt wird er zum Gefallen der EU-Behörde und einiger Mitgliedstaaten nur tiefer verscharrt. Zugleich wird endgültig eine Illusion der Väter des Pakts begraben: dass die Budgetpolitik der Mitgliedstaaten durch allgemein gültige EU-Regeln eingehegt werden könne.