Zum ersten Mal seit gut drei Wochen ist in Ottawa wieder Ruhe eingekehrt. Eine Ruhe, die viele der knapp eine Million Einwohner der kanadischen Hauptstadt schmerzlich vermisst hatten. Seit am 29. Januar Hunderte Trucker in die Stadt gekommen waren und lautstarke Proteste angezettelt hatten, herrschte in Ottawa Ausnahmezustand. Die sogenannten “Freiheits-Konvois”, die als Kritik gegen die Impfpflicht bei Grenzüberquerungen begonnen hatten, wandelten sich schnell in allgemeine Proteste gegen die Corona-Regeln und die Trudeau-Regierung. Zeitweise blockierten die Trucker mehrere wichtige Grenzübergänge in die USA und die Innenstadt Ottawas glich einer einzigen Partyzone.
Die Proteste schienen kein Ende nehmen zu wollen, bis Premier Justin Trudeau letzte Woche schließlich den nationalen Notstand erklärte. Was dann folgte, war einer der größten Polizeieinsätze in der Geschichte des Landes. Seit Freitag gingen Hunderte schwerbewaffnete Beamte gegen die Blockade in der Innenstadt vor. 191 Demonstranten wurden bislang festgenommen, darunter die Anführer der Proteste – mindestens 79 Trucks und Autos wurden abgeschleppt. Am Sonntag bauten die Einsatzkräfte die letzten Zelte und Essensstände der Trucker-Proteste ab und räumten den Schnee von den Straßen, damit die örtlichen Geschäfte wieder öffnen können.
Doch während sich in Ottawa viele auf die Rückkehr des Alltags freuen, warnt die Polizei, dass der Spuk noch nicht vorbei ist. Auf einer Pressekonferenz am Sonntag erklärte der kommissarische Polizeichef der Hauptstadt, Steve Bell: “Wir sind mit diesem Einsatz noch nicht fertig.” Man habe Kontrollpunkte eingerichtet und halte ein großes Kontingent an Beamten in Bereitschaft. Die Behörden würden aufpassen, “dass niemand zurückkehrt, um unsere Straßen wieder zu besetzen”, so Bell.
Demonstranten geschockt von Polizeieinsatz in Ottawa
Die Sorge der Polizei ist nicht unbegründet. Als die Einsatzkräfte am Wochenende begannen, die Blockaden aufzulösen, zeigten sich viele der Demonstranten unbeeindruckt und behaupteten, die Polizei sei zu dem Einsatz gar nicht befugt. Diese Botschaft war insbesondere von den führenden Köpfen der Proteste verbreitet worden.
Selbst als sich Videos von Festnahmen und Rangeleien mit der Polizei verbreiteten, reagierten viele in Telegram-Gruppen, die die Trucker unterstützten, mit Skepsis und Trotz. Ein Teil der Mitglieder weigerte sich zu glauben, dass die Einsatzkräfte wirklich zur kanadischen Polizei gehörten. “Wenn sie so viele Beamte hätten, gäbe es keine Kriminalität in der Stadt”, schrieb ein Nutzer. In Wirklichkeit beteiligten sich an dem Einsatz eine Reihe von Polizeieinheiten, darunter die Stadtpolizei von Ottawa, die Provinzpolizei von Ontario und Québec sowie die Royal Canadian Mounted Police.
Wieder anderen Demonstranten war versichert worden, dass die Polizei ihren Protest unterstütze. “Sie glauben wirklich, dass ganz Kanada sie unterstützt. Und so ist es für sie schockierend zu erfahren, dass sie nicht als Helden angesehen werden”, erläuterte Carmen Celestini, Postdoktorandin beim “Desinformationsprojekt” an der kanadischen Simon Fraser University, dem “Guardian“. Neben der Polizei fühlten sich einige Demonstranten auch von den eigenen Organisatoren und Protestführern verraten. Benjamin Dichter, einer der führenden Köpfe, hatte die Trucker-Unterstützer noch am Samstag dazu aufgefordert, “die Linien zu halten”, während er selbst Ottawa längst verlassen hatte. Auf Telegram bezeichnete ihn ein User daraufhin als “globalistischen Agenten, der den Freiheitskonvoi untergräbt”.
Polizeichef Bell versicherte unterdessen, dass alle Demonstranten, die von der Polizei gefilmt wurden und die Stadt verlassen haben, zur Rechenschaft gezogen werden. “Wir werden aktiv versuchen, diese zu identifizieren und finanzielle Sanktionen und Strafanzeigen weiterzuverfolgen”, sagte Bell und fügte hinzu: “Diese Ermittlungen werden noch Monate dauern.”
Gespaltene Reaktionen – von Erleichterung bis Enttäuschung
Nun da fast alle Trucker aus Ottawa verschwunden sind, könnten die Reaktionen auf das Ende der Proteste kaum unterschiedlicher ausfallen. Viele Anwohner zeigten sich gegenüber Reportern der Nachrichtenagentur AFP erleichtert: “Ich bin sehr froh, dass ich meine Stadt wieder habe”, sagte Jeff Lindley, der in der Innenstadt lebt und arbeitet. “Es ist heute so viel besser, ruhiger und stiller ohne die bedrohliche Präsenz all der Lastwagen und Demonstranten.”
Denn obwohl es auch in der breiten Bevölkerung Sympathien für den Corona-Frust gab, zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der Kanadier die Proteste verurteilte. Besonders in Ottawa wuchs der Ärger darüber, dass die Behörden so lange gezögert hatten einzuschreiten. Vor allem als bekannt wurde, dass sich auch rechtsextreme Gruppierungen unter die Proteste gemischt hatten. So waren bei den Demonstrationen immer wieder Konföderierten-, QAnon- und Trump-Flaggen gesichtet worden, ebenso wie Plakate von Verschwörungstheoretiker mit Behauptungen, dass das Coronavirus doch nur eine Erfindung der Pharmakonzerne sei und der Impf-QR-Code einzig der Überwachung durch den Staat diene.
Andere hingegen, die die Trucker unterstützt hatten, erklärten, sie würden weiter kämpfen. “Der Protest wird in meinem Herzen immer weitergehen”, sagte Nicole Craig, als sie am Samstagabend nach Hause ging. Entgegen zwischenzeitlichen Gerüchten über ausländische Finanzierungen, zeigt ein Datenleck, dass der Großteil der mehr als acht Millionen US-Dollar, die über “GiveSendGo” an die Trucker gespendet wurde, aus dem Land mit der Ahornblatt-Flagge stammt.
Was sagen die Trucker-Proteste über Kanada?
Viele Experten sind sich sicher, dass die Verschwörungstheorien und die populistische Wut, die die Trucker-Proteste hervorgebracht haben, nicht so schnell verschwinden werden. “Solche Leute ignorieren wir seit Jahrzehnten. Aber jetzt sehen wir die Früchte davon, weil wir die Menschen, die an diese Dinge glauben, ignoriert und linksliegen gelassen haben”, sagt die Expertin für Verschwörungstheorien Celistini.
Ähnlicher Ansicht ist auch Wesley Wark, Senior Fellow am “Centre for International Governance Innovation”, einem kanadischen Think Tank. “Es besteht die Sorge (…), dass diese Protestbewegung zu etwas viel Bedeutenderem und viel Nachhaltigerem werden wird”, meint der Politik-Experte. “[Der Bewegung] wurde enorm viel Sauerstoff gegeben, um ihre Botschaft zu verbreiten.”
Dabei ist jedoch wichtig im Blick zu behalten, dass das Momentum der Proteste auf einzigartige Weise mit der Pandemie verbunden war. So fanden die kanadischen Trucker-Proteste bereits weltweit Nachahmer, die unter anderem in Frankreich, Israel und Neuseeland gegen die Corona-Regeln auf die Straßen zogen. Mit der derzeitigen Entspannung der Pandemie-Lage im Westen bleibt abzuwarten, ob sich die Bewegung auch über die Corona-Proteste hinaus unter einem gemeinsamen Ziel manifestieren wird.
Bis dahin heißt es für viele Kanadier in Ottawa erst einmal die Ruhe genießen.