Es war ein ungewohntes Bild auf dem Maidan Platz im umkämpften Kiew, wo am 9. März das Kiewer Klassik-Orchester frierend in dicken Mänteln ein spontanes Konzert gab. “Das ist eine Aktion für den Frieden, ein Appell an die Menschlichkeit”, sagte Dirigent Merman Makarenko in der Nachrichtensendung “Tagesschau”. Das Orchester stimmte Ludwig van Beethovens “Ode an die Freude” aus seiner Neunter Sinfonie an. Darin enthalten die berühmte Textzeile “Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt”.
Ein Wunsch, den auch in Deutschland viele Orchester teilen. Die Ode an die Freude ist nicht nur immaterielles Unesco-Kulturerbe, sondern auch die Hymne Europas. Am 10.März erklang sie als Solidaritätsaktion für den Frieden in der Ukraine im Programm vieler europäischer Radiosender.
Gemeinsam für den Frieden musizieren
Nach den zahlreichen Boykottaufrufen gegen russische Kulturschaffende werden immer mehr Stimmen laut, die russische Künstler und Musikerinnen nicht generell vom Kulturleben ausschließen wollen. In deutschen Orchestern spielen viele Nationalitäten zusammen, darunter sowohl ukrainische als auch russische Musiker und Musikerinnen, die sich gegen den Krieg engagieren.
So ist in der Berliner Philharmonie am 15. März ein Solidaritätskonzert geplant, bei dem der mexikanische Tenor Rolando Villazón singt. Auf der Bühne werden auch die georgischstämmige Geigerin Lisa Batiashvili und der russische Pianist Kirill Gerstein spielen, zusammen mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin und dem Rundfunkchor.
Die Einnahmen sollen an Hilfsorganisationen für die Ukraine gespendet werden. “Die namhaften Künstlerinnen und Künstler haben sich zusammengetan, um gemeinsam ein weithin hörbares Zeichen für Frieden und Freiheit zu setzen und gegen den völkerrechtswidrigen Angriff des russischen Regimes auf die Ukraine mit den Mitteln der Musik zu protestieren”, hieß es von Seiten des Deutschen Sinfonieorchesters. Als Rednerin des Abends ist Kulturstaatsministerin Claudia Roth eingeladen.
Kein Boykott um jeden Preis
Gegen einen generellen Boykott russischer Musiker und Musikerinnen spricht sich der Intendant der Salzburger Festspiele, Markus Hinterhäuser, aus. Russische Künstler sollten unterstützt statt geächtet werden, sagte er der Deutschen Presse Agentur. Man könne nicht verlangen, dass alle Künstler Stellung für oder gegen Putin beziehen, so Hinterhäuser in einem Interview mit dem Österreichischen Rundfunk: “Wir wissen gar nicht, in welcher Situation sich viele Künstler befinden. Das hat nichts mit Opportunismus oder einer Art von Putin-Hörigkeit zu tun, das kann auch die nackte Lebensangst sein.” Jeder Fall müsse gesondert betrachtet werden, sagt Hinterhäuser.
Nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine hatten sich einige Orchester und Veranstalter von russischen Musikern wie dem Dirigenten Valery Gergiev oder der Sängerin Anna Netrebko getrennt, weil die sich nicht eindeutig von der russischen Invasion distanziert hatten. Gergiev wird auch bei den Salzburger Festspielen nicht dabei sein.
Russland-Schwerpunkt der Berliner Philharmoniker bleibt
Die russische Starsopranistin Anna Netrebko hatte viele Konzerte von sich aus abgesagt. Sie wird – wie es heißt, in gegenseitigem Einvernehmen – bei den Osterfestspielen der Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden Baden nicht auftreten. Der geplante Russlandschwerpunkt des Festivals soll aber beibehalten werden, sagte die Sprecherin der Berliner Philharmoniker gegenüber der DW.
Seit September 2021 sind die Berliner Philharmoniker musikalischer Partner der UNO Flüchtlingshilfe. Aus Solidarität zur Ukraine hat das Orchester auf seiner Homepage zu Spenden aufgerufen. Der russische Chefdirigent Kirill Petrenko hatte sich gleich nach der russischen Invasion in die Ukraine gegen das Vorgehen Putins ausgesprochen. In einer Videobotschaft zum Spendenaufruf spielt das Orchester “Silent Music” des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov.
Orchestermitglieder stehen zusammen
Mit der Musik des ukrainischen Avantgardisten wollen auch die Bamberger Sinfoniker ein Zeichen der Solidarität setzen. Bei den Bambergern spielen Musiker aus über 20 Nationen, darunter auch Russen und Ukrainer.
In den letzten Tagen hat das Orchester alle Konzerte mit Silvestrovs Stück “Gebet für die Ukraine” eröffnet. “Mit diesem Krieg wird auch das Hauptprinzip der Freiheit und der Selbstbestimmung der Menschen überall in Europa angegriffen”, so der tschechische Chefdirigent Jakub Hrůša in einem Statement für die Presse. Silvestrovs “Gebet für die Ukraine” entstand 2014, als Russland die ukrainische Halbinsel Krim besetzte.
Der ukrainische Cellist der Bamberger Symphoniker, Eduard Resatsch, hat ebenfalls ein Stück komponiert. In “Ukraina – den Opfern des Krieges” setzt er sich mit den furchtbaren Ereignissen in seiner Heimat auseinander, wo seine Familie noch lebt.
Offiziell ruft die Deutsche Orchestervereinigung ihre Mitglieder dazu auf, Resatschs Werk aus Protest gegen den Krieg jedem Konzert voranzustellen. “Zu wissen, dass es dieses Solidaritätszeichen vieler Orchester gibt, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit”, sagte Resatsch in der Mitteilung des Dachverbandes. Neben Gebetsklängen hat er auch Anklänge an die ukrainische Nationalhymne und die Europahymne in sein Werk einbezogen.
Junge Musiker besonders fördern
Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv war am 24. Februar eine der ersten, die mit ihrem “Jugendsinfonieorchester der Ukraine” musikalisch gegen den Angriff auf ihre Heimat protestiert hatte. Das Bundesjugendorchester aus Deutschland hat oft mit den Ukrainern zusammen musiziert und ruft jetzt zu Spenden für das Partnerorchester auf. Besonders Geldspenden und Medikamente werden benötigt.
Michael Maul, Intendant des Leipziger Bachfestes, ist bereits mit dem Jugendsinfonieorchester in Kontakt. Oksana Lyniv wurde im letzten Jahr groß bei den Bayreuther Festspielen gefeiert, wo sie als erste Frau in der Festspielgeschichte des Hauses am Dirigentenpult stand. “Wir haben das Jugendsinfonieorchester der Ukraine eingeladen, im Juni beim Bachfest aufzutreten. Zur Zeit ist jedoch nicht absehbar, ob und wie ein Konzert des Orchesters letztendlich stattfinden kann. Vielleicht können wir zumindest einige Mitglieder des Orchesters mit dem Thomanerchor zusammenbringen”, hofft Michael Maul im Gespräch mit der DW. Er möchte den hochbegabten Jugendlichen helfen.
“Im Moment müssen manche Orchestermitglieder mit der Waffe in der Hand ihr Land verteidigen, andere verstecken sich in Bunkern, wieder andere sind auf der Flucht – das slowenische Jugendsinfonieorchester hat ihnen Unterstützung in Slowenien angeboten“, sagt Michael Maul und bemüht sich erst einmal um finanzielle Hilfe. Am 21. März, zu Johann Sebastian Bachs Geburtstag, wird das Bachfest ein Konzert des Calmus-Ensembles aus der Thomaskirche auf den eigenen Kanälen streamen. “Der Erlös des Konzerts wird an das ukrainische Jugendsinfonieorchester und dessen Angehörige gespendet.”
Der Deutsche Musikrat hat als Dachverband deutscher Musikinstitutionen eine Liste mit Hilfsorganisationen aufgestellt, an die Orchester die Spenden aus ihren Solidaritätsveranstaltungen weiterleiten können.